Hitsuzendo, Pinsel tanzt. Tusche singt. - Japanische Kalligraphie in der Galerie Sakura München

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Hitsuzendo, Pinsel tanzt. Tusche singt.

Dokko-An Kokugyo Kuwahara
Dokko-An Kokugyo Kuwahara und der Pinsel-Zen-Weg
Ein Beitrag von Iris Eggenhofer, veröffentlicht in buddhismus-aktuell, 2014/4.

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Dokko-An Kokugyo Kuwahara

„Ich bin ein Brückenbauer“, sagt Dokko-An Kokugyo Kuwahara. Seit Jahrzehnten beschreitet der Japaner den Pinsel-Zen-Weg, Hitsuzendo, bescheiden und beharrlich; er leitet Sesshins und Seminare; lehrt den Geist des Rinzai-Zen, indem er ihn lebt. „Sprich nicht über Zen. Zeige Zen mit deinem Körper.“ Diese Aufforderung, dem japanischen  Zen-Mönch Shaku Sokatsu1 zugeschrieben, könnte auch von  Dokko-An Kokugyo Kuwahara sein. Er, der auch Sensei, Lehrer, genannt wird, ist zurückhaltend und redet nicht gerne. Gleichzeitig hinterlässt er mit seiner kraftvollen Präsenz und seinen meisterhaften Kalligraphien, die Wertschätzung auf der ganzen Welt finden, einen nachhaltigen Eindruck.
Nach europäischer Zeitrechnung ist der 26. September  2014 Kuwaharas 70. Geburtstag. Nach japanischer Bestimmung, bei der der  Tag der Geburt mitgezählt wird, ist der Kalligraph bereits 71 Jahre  alt. Kuwahara rückt im Gespräch das Thema Lebensalter gleich ins rechte  Licht: Nach Ansicht der alten Hitsuzendo-Meister ist man mit 50  Lebensjahren noch zu jung, um zu lehren oder zu kalligraphieren; erst  mit sechzig oder siebzig könne sich ein „spontaner Geist“ entwickeln. Er selbst hoffe nur, dass seine Tuschearbeiten in der nächsten Lebensdekade Ruhe ausstrahlen. Dass der Zen-Geist besser zu spüren sein würde. „Die allerbeste Kalligraphie ist die vor dem Tod.“
Da ist sie, die Bescheidenheit, der Geist des „Wabi“2. Diese Bescheidenheit stellt die Bedeutung eines einzelnen Lebens in  Relation zum kosmischen Ganzen. Welch ein Kontrast zur westlichen Welt mit täglicher Ego-Pflege!
Kuwahara hat ein deutsches Sprichwort adoptiert und zitiert es regelmäßig, indem er es gekonnt umdreht: „Schweigen ist Gold.  Reden ist Silber.“ Dass Reden von Übel sein kann, wissen viele Kulturen  und Religionen. Und noch ein Übel hat er ausgemacht: das Denken. Vom  vielen Denken wird der Kopf nur schwer: „Zazen braucht keine Bücher, nur  Platz. Einmal ein Meter groß.“
Kuwahara wird 1944 in Tokio geboren. Schon als Zehnjähriger widmet er sich dem Sho-do, dem der Gefälligkeit und Schönheit verschriebenen Pinselweg. Er begeistert sich für Hermann  Hesse, lernt Deutsch. An der Aoyama-Universität in Tokio studiert er Psychologie, Pädagogik und Zen-Buddhismus. 1966 reist er zum ersten Mal nach Wien und lebt dort einige Zeit; 1972 besucht er die Olympischen Spiele in München – „nur als Zuschauer, leider“, sagt der Judo-Kämpfer  Kuwahara.
Zurück in Japan wird er 1975 Schüler von Großmeister Omori Sogen Roshi (1904–1994) und tritt als Laie in dessen internationalen Rinzai-Tempel Sentai-ji in Yamanashi ein. Omori Sogen ist Schwertkämpfer und Kalligraph. Zusammen mit Yokoyama Setsudo hat er  den Kalligraphiestil Hitsuzendo entwickelt. Diese Zen-Übung mit Pinsel  und Tusche unterscheidet sich vom Sho-do, dem Schönschreiben, durch die Betonung des Spontanen. Nicht das perfekte Kunstwerk, sondern der  Prozess der absichtslosen Gestaltung und Konzentration, das Schreiben in einem Atemzug von der Körpermitte aus stehen im Mittelpunkt des Tuns. Universelle Energie strömt. Von den Schülern wird zuallererst Mujibo,  eine vermeintlich einfach zu ziehende gerade Linie, geübt. Eine Linie, die wie ein Schwerthieb das Universum in zwei Teile zerlegt.
Gut vier Jahre lang studiert Kuwahara in Yamanashi. Dann schickt ihn sein Meister als Assistent und Zen-Lehrer in ein Dojo in das Kanozan Zen-Zentrum in der Präfektur Chiba.
Letztendlich wird er der einzige autorisierte Schüler von Omori Sogen Roshi, der in Europa Hitsuzendo lehren wird. Im Jahr 1984 geht der Kalligraph den japanischen Deutungsmöglichkeiten seines Namens Dokko-An (Selbstständiger/nach Deutschland gehen) gemäß  nach München. Der Brückenbauer schlägt den Bogen zwischen östlicher und  westlicher Lebenskultur, Kunstrezeption, Religion und Philosophie. Gemäß  dem Verständnis des Zen missioniert er nicht, sondern sieht sich  lediglich als Chancengeber. Er ist die Brücke, doch den Weg müssen die  Schülerinnen und Schüler selbst gehen.
Er wird Lehrer an einer Vielzahl von Orten wie dem  Haus Buchenried am Starnberger See, dem Kloster Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee oder dem Seminarhaus Engl in Unterdietfurt. Kuwahara gründet Dojos in München (in den letzten Jahren alle unweit des Kulturzentrums Gasteig im Stadtteil Haidhausen) und in Regensburg; übt  dort mit seinen Schülerinnen und Schülern Zazen und Hitsuzendo. „Pinsel  tanzt. Tusche singt. Ganz ohne Kraft.“ Wenn man Kuwahara nach seinem Selbstverständnis fragt, sagt er allenfalls: „Ich bin nur ein Zen-Bote.“  An Titeln hängt er nicht. „Zen ist Geben, nicht Sammeln. Keine Titel  sammeln.“ Buddhismus bedeute, einfach alles zu geben: Liebe,  Materielles, Zeit, alles, was einen der eigene Meister gelehrt habe. Nichts festhalten, nackt wie ein Kind bei der Geburt bleiben. Denn nackt müsse man ja auch wieder von dieser Welt gehen.

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Im Dojo Ensokai, dem „Raum für Kunst und Stille“ in München-Haidhausen, sitzt Kuwahara vor einem großen Blatt Papier: „Den  Pinsel nehmen, sich verneigen, Liebe geben.“ Während die europäischen Künstler in ihrem Werk vielfach ihr Ego zeigen wollten, will der Japaner Dankbarkeit ausdrücken. Er verneigt sich, bedankt sich beim Papier, beim Pferdehaar-Pinsel, der tiefschwarzen Tusche. Jedes Material habe seine eigene Energie, seine eigenen Wünsche. Der Kalligraph tritt in den Hintergrund; er beobachtet den Einfall des Lichts, horcht auf die  Energie des Raums. „Alles im Körper wird Pinselweg.“
Ein Enso, ein Zen-Kreis, entsteht. Der Kreis ist das Leben; er ist schwierig. Das letzte Viertel ist besonders schwierig.  Reicht der Atem, die Tusche, die Kraft? Der Augenblick manifestiert sich im Enso. Die Schülerinnen und Schüler sind oftmals verstört, wenn Zen-Kartoffeln oder -Eier herauskommen. „Lieber darüber lächeln.“ Nicht am Ergebnis festhalten.
Geübt wird in den Kursen und im Dojo, dem  Meditationsraum, auf Zeitungspapier. Und auch das verstört manche. Kunst auf Zeitungspapier? Der Assistent räumt das Zeitungspapier ins  Altpapier. „Später dann – wiedergeboren vielleicht als Toilettenpapier –  begegnen sie ihrer Kunst, eines Tages.“ Absichtsloses Schreiben. Körper, Geist, Pinsel, Tusche und Papier werden zu einer Einheit. Im  Dojo Ensokai hängt hinter der Buddhastatue eine Kalligraphie: Mu-Shin. Die Absichtslosigkeit als Auftrag? Keine Absicht, keine Absichtslosigkeit.

Wie  lautet der Auftrag an die Schülerinnen und Schüler? Beobachten  zuallererst, regelmäßig üben, den Kopf leer machen, den Weg beschreiten.  Die richtige Körperhaltung, Atmung und Konzentration üben. „In den ersten zehn Sekunden machen die Schüler schon drei Fehler.“ Sensei  Kuwahara erklärt den Seminarteilnehmern die Bedeutung von Pünktlichkeit. Früh morgens gelte es rücksichtsvoll aufzustehen; die Türen mit beiden  Händen leise zu öffnen und zu schließen. Wie stehen die Schuhe vor dem  Dojo? Achtsamkeit wird in jedem Augenblick gelebt, nichts ist unbedeutend. Üben, zuerst die Form üben. Zazen. Hitsuzendo. „Später  bekommt der Körper seine Gewohnheit.“ Die Dimension der Zeit ist auch hier eine nicht europäische. „Es dauert zwei bis drei Jahre, bis sich  das Herz öffnet.“
Die Kursteilnehmer tragen oftmals einen großen  Rucksack an Problemen mit sich. Im Sesshin weitet sich der Blick, der  Gruppengeist wächst, das mitgeschleppte Ego wird kleiner, Ruhe breitet sich aus. „Danach sucht man das Problem. Das Problem ist nicht mehr da.“  Es kommt Freude auf.
Für Kalligraphie-Auftragsarbeiten wird hochwertiges Papier verwendet. Sensei Kuwahara rückt die beiden Steine, die das große leere Blatt beschweren, an ihren Platz. Er verneigt sich. „Den Pinsel zwischen den Zähnen als Kranich fliegen; die Flugbewegungen imaginieren; ein Kranich sein; den Kranich kalligraphieren.“
So spontan die Kunst, so respektvoll das Umfeld. Kuwahara kalligraphiert in der Regel vormittags: Dann sei die Energie kraftvoller. Im Ensokai sind Papier, Pinsel, der Reibstein mit der Tusche und die Stempel am richtigen Platz. Sensei, das nackte Blatt, ein Räucherstäbchen, die dahinter stehende Buddhastatue und das Rollbild  Mu-Shin an der Wand bilden eine imaginäre Linie. So wie die Schuhe vor  dem Dojo nicht wild durcheinandergeworfen werden, ist auch hier alles an seinem Platz. Die Ordnung im Dojo entspricht der des Rollbildes, in die eine Kalligraphie letztendlich eingebettet wird. Alles ist wichtig: Motiv, Material, Abstand, die Farben …
Das Spontane entfaltet sich erst auf einem Fundament  der Ordnung, des Respekts und der Konzentration. Der Schüler muss seine  „Zen-Augen“ nutzen, sich Details und Reihenfolge merken. „Antwort  selbst spüren, Liebe selbst spüren.“
Vom Dojo oben am Berg ist der Weg  hinunter an die Isar nicht allzu weit. Unten am Fluss. Im Blick ein  imposantes turmgeschmücktes Gebäude: eine Badeanstalt aus der  Jugendstilzeit. Im Blick der wilde Fluss, der helle Kieselstrand, ein  Stauwehr, ein Wasserfall, daneben der ruhige Isarkanal. Oben der Himmel. Gegenüberliegend eine Kirche mit romanischen Elementen und  Renaissancekuppel. Ein überaus europäischer Ort. Mittendrin Kuwaharas  Lieblingsplatz, eine Brücke: „100 Meter lang, sieben Meter breit, zehn Meter über dem Wasser.“
ANMERKUNGEN:
  1. Japanischer Rinzai-Mönch und Schüler von Shaku So-en, dem Rinzai-Vertreter beim ersten „Weltparlament der Religionen“ in Chicago 1893.
  2. Zentraler japanischer Kulturbegriff mit der ursprünglichen Bedeutung "Armut" und vielfältigen Übersetzungsmöglichkeiten: Genügsamkeit, Bescheidenheit, Einfachheit.

Den Originalartikel finden Sie auf der Seite Buddhismus-Aktuell unter folgendem Link:



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